Weihnachten letztes Jahr

Mein Weihnachtspost für Instagram, morgens beim Spaziergang entstanden, ist kaum 10 Stunden her,
da kommt die Anfrage, ob ich einspringen kann. Heilig Abend Gottesdienst.
Nicht, wie man vermuten könnte, als Musiker,
sondern in Vertretung für die Pastorin.
Krank ist krank und ich sage zu.

An der schweren Eingangstür begrüßt mich die Kirchenälteste überrascht und beginnt vermutlich sogleich zu beten.
Die Kirche füllt sich und die Glocken beginnen ihr Lied.
Junge, modisch gekleidete Erwachsene sitzen neben
älteren, streng gekleideten Senior*innen,
der Gospelchor singt, was das Zeug hält,
alle Kerzen leuchten laut und ich – ich darf predigen.
An Weihnachten. Halleluja!

Zum Glück hatte ich am Morgen schon diesen Post zu Weihnachten geschrieben. Über „Wunder“.
Allerdings sind wir hier im Norden ja mit der Wundergläubigkeit nicht über die Maßen gesegnet.
Und dennoch bin ich mir sicher:
Dass wir Weihnachten heutzutage noch feiern, ist ein Wunder.
Und liegt auch daran, dass an Weihnachten immer wieder Wunder möglich sind und passieren.
Gerade auch, weil an diesen Fest- und Feiertagen die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit der Welt
und der Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt und nach Frieden so groß ist,
dass so ziemlich alle Menschen so ziemlich alles für ein kleines Wunder tun würden.
Sage ich. Die Kirchenälteste nickt.
Erzählen kann man ja viel in so einer Heiligen Nacht.

Also ein Wunder.
Und es kommt, zumindest ein Kleines.
In den Fürbitten sollen die Leute überlegen,
welche Person ihnen heute Nacht am meisten fehlt,
sei es wegen Corona, Schwiegereltern oder anderen Malheurs …

Und dann bitte ich alle, ihr Handy herauszuholen –
die Kirchenälteste schaut mich mit ihren großen Augen überaus skeptisch an.
Doch die Gemeinde macht, wie ihr gesagt ward,
und nach einer „Trockenprobe“ erheben die Menschen in den Bänken
gleichzeitig und mit norddeutscher Inbrunst ihre Stimme
und schicken eine vielchörige Sprachaufnahme
an ihre am dollsten herbeigesehnte Person.
„Fröhliche Weihnacht überall,
tönet durch die Lüfte froher Schall“,
singen sie, freuen sie sich gerührt über diesen Moment
und ich zwinkere der Kirchenältesten diebisch beglückt zu.

Am Ausgang raunt sie mir erlöst zu,
dass es ja noch mal gut gegangen sei
und selbst Frau „So und So“, man kennt sie, nicht gemeckert hat.
Nun, so viel zum Thema Weihnachtswunder.

Jan Simowitsch